Auf dem Weg zwischen der sächsischen Landeshauptstadt Dresden und dem oberen Erzgebirge liegt die alte Silberstadt Freiberg. Zu ihr hatte Kreuzkantor Rudolf Mauersberger (1889–1971) eine besondere Affinität, wie er 1967 nach dem Tode des dortigen Domkantors Arthur Eger konstatierte: Er empfinde mit dem Dresdner Kreuzchor eine Verwandtschaft zum Freiberger Dom, Silbermannorgel und Knabenstimmen seien „zwei einzigartige Begriffe in der Ausübung sakraler Kunst, wie sie sich hier in wunderbarer Weise vereinigen konnten“. Mit Freiberg war auch einer seiner begabtesten Chorpräfekten verbunden: Karl Richter, dem wesentlichsten Exponenten der Bach-Pflege in der alten Bundesrepublik.
Ob Mauersberger die 1947 entstandene „Passionsmusik nach dem Lukasevangelium“ einmal in Freiberg zur Aufführung gebracht hat, ist kaum zu vermuten, da er seine abendfüllenden Kompositionen in Gänze nur selten außerhalb Dresdens dirigierte. Werke wie die „Christvesper“ oder das „Dresdner Requiem“ werden inzwischen, seit der Drucklegung im Carus-Verlag Stuttgart, deutschlandweit aufgeführt. Die „Lukaspassion“ – sein erstes abendfüllendes A-cappella-Werk – gab der Textverfasser bereits im Jahre 1980 bei der Evangelischen Verlagsanstalt Berlin heraus.
Die Kriegsjahre und in Folge die Zerstörung der Stadt Dresden am 13./14. Februar 1945 brachten Rudolf Mauersberger einerseits für Jahre aus dem seelischen Gleichgewicht, andererseits wurden in ihm ungeahnte schöpferische Kräfte freigesetzt. Lange konnte er die durchlebten Luftangriffe nicht aus seinem Gedächtnis tilgen.
Zu Fuß gelangte der Kreuzkantor in seine erzgebirgische Heimat. Dennoch: Das Verbundensein mit dem Kreuzchor, „nicht zuletzt auch die Sehnsucht nach den Jungens, nach ihren Stimmen, die mir so oft den bösen Geist ausgetrieben haben“, steigerten den Wunsch nach einem Neubeginn, auch wenn Mauersberger der Tod von elf Kruzianern schwer auf der Seele lastete. Bereits am 1. Juli 1945 versammelte sich der Kreuzchor im „Kelleralumnat“ in der Oberschule Dresden-Plauen.
Nun prägten die neuesten Kompositionen des Kantors den Choralltag mit. Von seinem Gesamtwerk ist der an Karfreitag und Karsamstag 1945 in Mauersberg geformte Trauerhymnus „Wie liegt die Stadt so wüst“ nach den Klageliedern Jeremiae am bekanntesten geworden.
Bevorzugt stellte Mauersberger in der Nachkriegszeit seine Kompositionen in einen liturgischen Kontext. Er wollte christliche Botschaften durch Chorgruppen mit Kerzenknaben in liturgischen Farben vor dem Altar versinnbildlichen und damit die karge Liturgie der evangelischen Kirche verlebendigen.
Obgleich diese Praxis bis zum heutigen Tage in den Gottesdiensten wie den Kreuzchorvespern vor den Hohen Festen noch gepflegt wird, so spielt sie doch in der Aufführungspraxis Mauersbergerscher Werke außerhalb der Kreuzkirche verständlicherweise keine Rolle.
Über seine „Lukaspassion“, die in den Januartagen 1947 im tief verschneiten Mauersberg entstand, hat sich der Komponist mehrfach geäußert. Vor Aufführungen ließ er folgende Zeilen verlesen: „Es ist nicht üblich, vor kirchenmusikalischen Veranstaltungen Erläuterungen abzugeben; aber die Erfahrung hat gezeigt, dass einige erklärende Worte vorausgeschickt werden müssen. Die Passion, die heute zu Gehör gebracht wird, knüpft an die altkirchliche chorische Passion an, wie sie 100 oder 200 Jahre vor Johann Sebastian Bach üblich war. Die Erzählung der Leidensgeschichte liegt nicht in den Händen des Evangelisten wie bei Bach, sondern wird vom Chor bestritten. Ebenso sind die Christusworte wie auch die Worte des Pilatus in den Mund des Chores gelegt. Neu ist, dass der Chor, der die Christusworte singt, am Altar steht. Ebenso neuartig ist die liturgische Zeremonie im dritten Teil. Das Ganze soll ein Vorschlag zur Belebung der evangelischen Liturgie sein. Aus diesem Grunde singt der Chor die Choräle rhythmisch, wie sie jetzt im ganzen Lande eingeführt und gepflegt werden. Die Musik ist trotz der uralten Form in moderner Tonsprache gehalten, die aber dem liturgischen Geschehen dienstbar gemacht ist. Wie bei allem Neuartigen, ist auch hier innere Bereitschaft zur Aufnahme des Werkes nötig.“
In dem noch unveröffentlichten, sehr interessanten Briefwechsel zwischen Rudolf Mauersberger und Pfarrer Rudolf Decker lesen wir zum Prozess der Entstehung: „Mauersberg, den 23. Januar 1947: Ich kam diesmal nach einem nicht sehr schönen Weihnachten erst an Silvester mit einem Privatwagen nach Mauersberg, nachdem mich ein Plauener Arzt erst transportfähig gemacht hatte. Ich hatte mir durch das dauernde Frieren eine dumme Dickdarmentzündung geholt … Am 5. Januar, also am 3. Heiligen Abend früh im Bett in unserer Bodenkammer trat die Befreiung ein. Ich entwarf eine Lukaspassion, die nunmehr nach 14 Tagen fertig ist. Hoffentlich lernen Sie dieses neugeborene Kind in dieser Passionszeit kennen. Gerade wegen der Christuschöre und Choräle hätte ich dann gern einmal Ihr Urteil. Sie soll im Februar abgeschrieben und dann geübt werden. Denn mit Vervielfältigung dauert es wegen der Genehmigung zu lang. Es ist eine Gefahr dabei, wenn man so schnell arbeitet: man kann sich zu leicht verausgaben. Aber ein Vorzug ist auch dabei, die Geschichte ist aus einem Guss und nicht zusammengetragen in den verschiedensten Stimmungen.“
Pfarrer Decker nahm hierauf aus Großerkmannsdorf bei Dresden am 4. Juni 1947 brieflich Bezug: „Ihre Lukaspassion erscheint mir als das kirchlichste Ihrer Werke. Ich habe freilich sehr bedauert, sie nur einmal gehört zu haben. Es ist mir nicht in allem ohne weiteres gelungen, ganz die innere Beziehung dazu zu finden, obwohl ich, wie gesagt aufs Tiefste von der Meisterschaft beeindruckt war, mit der Sie diese Passionsmusik zu einem wirklich gottesdienstlichen Akt zu gestalten wussten. Wir werden ja wohl dieser Passion im nächsten Jahr wieder begegnen.“
Bis 1970 erklang das Werk meist gekürzt in den Kreuzchorvespern. Zur Passionszeit 1971 wollte es Mauersberger (neben der Bachschen Johannes- und Matthäus-Passion) zum letzten Mal dirigieren. Der Tod des 82-Jährigen am 22. Februar kam der vereinbarten Amtsübernahme durch Martin Flämig am 1. April zuvor, so dass Kantor Wolfgang Ebersbach „zwischen den Zeiten“ die geplante Aufführung leitete. Außer Matthias Jung (in der Passionszeit 1996) hat kein Kreuzkantor nach Mauersberger das Werk wieder zur Aufführung gebracht. Für die Neubewertung des Werkes außerhalb des Kreuzchores machte sich der Thüringische Akademische Singkreis unter Wolfgang Unger verdient.
Worin liegen die Besonderheiten dieser Passion? Es ist eine A-cappella-Vertonung nach Vorbildern alter Meister. Sowohl die Passionserzählung als auch die handelnden Personen und Personengruppen sind chorisch gestaltet, zum Teil sehr dramatisch. Als Eigenheit löst Mauersberger die Christusworte heraus und überträgt sie einem in seiner Struktur eher getragen gehaltenen Altarchor. Zudem fügt er (wie bei Bach und Zeitgenossen) Choräle als Stimme der Gemeinde ein, dabei viele klangliche Facetten bedienend. Bei der Umsetzung der bildhaften Sprache von Luthers Übersetzung des Lukas-Evangeliums wendet Mauersberger im Hauptchor ein breites Spektrum figürlicher und affekthafter Mittel an. Die Inspiration durch den ihn offenbar sehr berührenden Passionstext merkt man dem Werk auf Schritt und Tritt an. Der Wechsel zwischen chorischer Ein- und Vielstimmigkeit steigert die Plastizität weiter. Wenn er zu dem in der Regel akkordischen Satz kontrapunktische Techniken als Kontrast einbezieht, dann geschieht dies weniger streng. Mauersbergers Passionsvertonung verdeutlicht die Eigenheiten seines Stils „pur“. Sie ist – im Gegensatz etwa zur „Christvesper“, zum „Dresdner Te Deum“ und „Dresdner Requiem“ – ohne stilistische Brüche und von großer Eindringlichkeit, so wie es der Rezensent Gottfried Schmiedel im „Sächsischen Tageblatt“ am 5. April 1947 über die Uraufführung in der katholischen Herz-Jesu-Kirche Dresden berichtete: „Wie unvergleichlich ist die lyrisch-dramatische Verdichtung der Sprache umgedeutet zu einer erstaunlich plastischen musikalischen Diktion. Welche Spannung strahlt der durchsichtige Chorsatz aus. Wie verbindet sich die romantische Grundhaltung des Komponisten mit der Linie Pepping – Distler zu einem eigenen Stil.“
Prof. Dr. Matthias Herrmann